Eine Gruppe ist ein dynamisches Gefüge, das sich immer wieder verändert (Evertson, Emmer & Worsham, 2006). Es lassen sich Entwicklungsphasen einer Gruppe erkennen, die sich in ihrer Dynamik unterscheiden und damit je spezifische Führungsanforderungen an die Lehrperson stellen. Das Modell von Tuckman (1965) ist bis heute bedeutend.
Die Phasen verlaufen in einer bestimmten Abfolge. Wie lange eine Dauert ist sehr unterschiedlich. Die Entwicklung einer Gruppe ist jedoch kein linearer Prozess, bei welchem die eine Phase aus der vorgängigen hervorgeht. Es stellen sich auch Kreisläufe ein. Damit ist die Lehrperson gefordert, die Dynamik der Gruppe nach ihren zugrundeliegenden Qualitäten zu erkennen, um angemessen zu reagieren.
Zudem gibt es nicht nur eine Entwicklung im grossen Bogen des Bestehens einer Klasse. Innerhalb des grossen Bogens stellen sich immer wieder kleinere ein. So zeigt sich nach jedem Unterbruch (Ferien, Wochenende, Tag) oder Wechsel (Wechsel der Lehrperson, Praktikumsphase von Studierenden) ein Neuanfang.
Abbildung 5 zeigt den Ablauf der Phasen grafisch dargestellt:
Abb. 5.: Phasen einer Gruppenentwicklung und Verläufe (Keller-Schneider, 2018, S. 243).
Die Phasen lassen sich wie folgt beschreiben (Keller-Schneider, 2018, S. 240ff.):
Orientierung (forming), Phase des Ankommens und sich Einfindens:
Blitzartig stellt sich ein «Beschnuppern» ein. Wer ist wie? Von wem kann ich was erwarten, muss ich was befürchten? Gruppenmitglieder orientieren sich. Den Schülerinnen und Schülern ein Gegenüber sein, das auch sich zeigt und erfahrbar werden lässt, welche Normalität sich in der Gruppe einstellen könnte, ist von Bedeutung.
Kurze Partnerarbeiten mit Arbeitsweisen, die Ihnen wichtig sind, und in häufigen und ausgelosten Kombinationen unterstützen den Prozess der Orientierung.
Welche Tätigkeiten und Arbeitsweisen unterstützen die Schülerinnen und Schüler darin, sich zu orientieren und sich gegenseitig kennenzulernen?
Einführung von Normen (norming), Phase des Klärens von Normalitäten:
Was gilt in dieser Gruppe? Dabei stellen sich implizite, also nicht ausgesprochene Regeln und Rituale ein, welche die Lehrperson erkennen und lenken soll.
Zudem werden explizite Regeln eingeführt, die den Rahmen klären. Dabei ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, welches Verhalten erwartet wird und wo Grenzen liegen. Diese als Erwartungen zu formulieren, gibt Halt. Werden sie als Verbote gegeben, so bleibt nach wie vor unklar, was denn erwartet wird.
Was erwarten Sie von den Schülerinnen und Schülern?
Erläutern Sie den Schülerinnen und Schülern, welches Verhalten Sie erwarten. Was soll zur Normalität werden?
Was erwarten die Schülerinnen und Schüler voneinander und von Ihnen als Lehrperson?
Holen Sie auch gegenseitige Erwartungen der Schülerinnen und Schüler sowie die Erwartungen ein, welche diese an Sie als Lehrperson stellen.
Konfliktstadium (storming) als Aushandeln von Regeln und dem Testen ihrer Gültigkeit:
Das Aushandeln von Regeln und Spielraum und das Testen ihrer Gültigkeit erfolgt parallel mit der Einführung und Veränderung von Regeln als Normen. Ein Aushandeln von Möglichkeiten und Grenzen sowie ein Festigen der Gültigkeit, ohne dabei mit Strafen zu drohen, ermöglicht Klarheit. Dieser Prozess fordert Zeit, feinfühliges Beobachten und auf den Prozess bezogenes Handeln der Lehrperson.
Deuten Sie diese nach der verborgenen Absicht, die dem widerstand bzw. dem Konflikt zugrunde liegen könnte.
Testen die Schülerinnen und Schüler, wie wichtig Ihnen diese Erwartung ist?
Wollen die Schülerinnen und Schüler zeigen, dass diese Erwartung nicht passt und geändert werden soll, damit sie diese mittragen können?
Unterscheiden Sie zwischen einem konstruktivem, nach neuen Lösungen strebenden Widerstand und zwischen einem testenden, Grenzen suchenden Widerstand.
Auf Konflikte einer Konfliktphase kann und soll die Lehrperson also nicht nur mit Durchsetzungskraft antworten, sondern mit einer Gesprächsbereitschaft. Damit können passendere Erwartungen und Regeln gefunden werden, die von den Schülerinnen und Schülern mitgetragen und damit eher eingehalten werden.
Über Partizipation den Widerstand von Schülerinnen und Schülern in Mitgestaltung zu wenden, führt weiter als ihre Mitgestaltungswünsche zu unterdrücken.
Produktivitätsphase (performing) stellt die erwünschte Phase einer Klasse dar:
Lehrpersonen erwarten, dass es funktioniert. Die Produktivitätsphase muss jedoch erarbeitet und laufend gepflegt werden. Positives Feedback zu erwarteten Verhaltensweisen trägt dazu bei, das zu erhalten und zu stärken, was es zu stärken gilt (vgl. Fallvignette Umgang mit herausforderndem Verhalten).
Bestärkendes Feedback und Lob sollen sich jedoch auf Dinge beziehen, die nicht ganz selbstverständlich erwartet werden. Lob ist wichtig, doch es soll etwas aussagen und muss von den Schülerinnen und Schülern ernst genommen werden können.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf, was gut gelaufen ist und was die Schülerinnen und Schüler oder auch spezifische Kinder dazu beigetragen haben.
Bestärken Sie auch einzelne Schülerinnen und Schüler in Verhaltensweisen, die den Erwartungen und Regeln entsprechen, die aber Anstrengung und Anstrengungsbereitschaft erfordern und damit noch nicht als selbstverständlich gelten.
Abschlussphase, eine Gruppe bewegt sich auf ihre Auflösung zu:
Dieser Phase wird oft wenig Beachtung geschenkt. In der Regel erwarten Lehrpersonen, dass die Klassendynamik und die Arbeitsweise nun bis zum Schluss so gut laufen, wie sie sich in der Performing-Phase eingespielt haben. Doch ein bevorstehender Abschluss wirft seine Schatten voraus. Einige Schülerinnen und Schüler nehmen das, was bis anhin Gültigkeit hatte, nicht mehr ganz ernst. Andere wiederum leisten Widerstand, um das zu stören, was gut war, um anschliessend nicht ganz so traurig über den Verlust zu sein. Diese Prozesse laufen unbewusst ab, müssen von der Lehrperson phasenspezifisch gedeutet werden, um den Auflösungsprozess zu begleiten und selbst auszuhalten.
Für die Lehrperson ist es wichtig, gerade in dieser Phase Konflikte und ein Nicht-Befolgen von Anweisungen nicht in derselben Art und Weise zu begegnen, wie in einer Aufbauphase, in welcher der Aufbau von Klarheiten wichtig ist. In der Abschlussphase einer Gruppe sollen Lehrpersonen eher an das erinnern, was funktionierte und dass sie möchten, dass dies weiterhin beachtet werde.
Nutzen Sie Abschlussphasen, um nochmals in Erinnerung zu rufen, was gemeinsam erlebt und unternommen wurde.
Freuen Sie sich zusammen mit den Schülerinnen und Schülern über das, was die Schülerinnen und Schüler gelernt haben. Nutzen Sie Abschlussphasen, um dieses zu festigen und in Projekten zu zeigen.
Phasen und Kommunikation
Die Phasen unterscheiden sich in den Sachbezügen und in der Beziehungsebene (vgl. dazu auch aus der Kommunikationspsychologie: Watzlawick et al., 1985). Für die Lehrperson ist von Bedeutung, über einen Sach- und Anforderungsbezug auch die Beziehungsebene in den Blick zu nehmen und die Beziehung zu gestalten und zu pflegen. Dabei ist wichtig, nicht jede Aussage der Schülerinnen und Schüler als Appell zu hören, sondern wahrzunehmen, was die Schülerin oder der Schüler über sich selbst und seine Bedürfnisse zum Ausdruck bringt.
Die Phase und ihre Dynamik zu erkennen, in welcher eine Gruppe oder Teilgruppe steht, hilft, die Sach- und Beziehungsebene zu gewichten. Mit dem Sachohr, Beziehungsohr, Selbstkundgabeohr und dem Appellohr zu hören (Schulz von Thun, 1981) ermöglicht der Lehrperson, die Situation facettenreich wahrzunehmen und entsprechend vielfältig zu handeln.
Phasen und Aufgaben in spezifischen Sozialformen
Schwierigkeiten können daraus entstehen, dass eine Lehrperson in ihrer Aufgabenstellung die Phase, in welcher eine Gruppe steht, zu wenig beachtet (vgl. Keller-Schneider, 2018, S. 245).
Folgende Überlegungen können für die Entscheidung hilfreich sein:
Orientierung: Einfache, klare Aufgaben, die in häufig wechselnden Partner- und Dreiergruppierungen bearbeitet werden.
Norming: Klare Aufgabenstellung, die in ihrer Bearbeitung ritualisiert werden sollen, um Arbeits- und Verhaltensweisen zu festigen.
Konfliktphase: Diese kann sich in der Klasse als Ganze oder in einzelnen Gruppen abzeichnen. Klare und bewältigbare Aufgaben stellen, die herausfordern und damit eine gemeinsame Anstrengung erfordern, aber nicht überfordern. Dass die Bewältigung einer Aufgabe der Gruppe gelingt, ist insbesondere in dieser Phase sehr wichtig. Sich fähig und wirksam zu erleben kann dazu beitragen, Konflikte zu überwinden und in eine Produktivität zu finden.
Produktivitätsphase: Nun ist die Gruppe bereit, sich auf komplexe und länger angesetzte Aufgaben einzulassen. Nutzen Sie in dieser Phase die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sowie die Arbeitsweisen, die nun eingespielt sind und funktionieren. Vermeiden Sie eine einengende Führung, trauen Sie den Schülerinnen und Schülern Fähigkeiten und Möglichkeiten zu.
Abschlussphase oder Erntezeit: Lassen Sie die Schülerinnen und Schüler an dem arbeiten, was funktioniert und freut. Der Gestaltungsspielraum, den die Kinder brauchen, um aktiv zu bleiben, kann durchaus individuell verschieden sein.